Lange Zeit galt es als diagnostische Grundregel: Eine Person könne entweder eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) aufweisen – aber nicht beides zugleich. Diese Sichtweise basierte auf den damaligen diagnostischen Kriterien, weche das Vorliegen beider Entitäten ausschlossen. Doch jüngere Forschung und klinische Erfahrung zeigen ein anderes Bild: ADHS und Autismus treten häufig gemeinsam auf.

In Praxen mit einer spezialisierten Ausrichtung für neuropsychiatrische Entwicklungsstörungen sehen wir zunehmend Menschen, deren Symptomprofile Merkmale beider Diagnosen aufweisen. Diese Erkenntnis fordert nicht nur unser diagnostisches Vorgehen heraus, sondern auch unser Verständnis davon, wie wir neurodiverse Entwicklungen begreifen.

Historische Entwicklung: Vom Ausschluss zur Integration

In älteren diagnostischen Manualen wie dem DSM-IV war explizit festgelegt, dass die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung eine ADHS-Diagnose ausschließt. Erst mit der Veröffentlichung des DSM-5 im Jahr 2013 wurde diese künstliche Trennung aufgehoben. Seitdem erkennen Fachgesellschaften weltweit an, dass ADHS und Autismus koexistieren können – und dies auch häufig tun: Schätzungen zufolge zeigen bis zu 50% der Menschen mit Autismus auch ADHS-Symptome, und umgekehrt.

Ein multidimensionales Modell: ADHS und Autismus als Kontinuum

Statt ADHS und Autismus als separate, klar abgegrenzte Störungsbilder zu betrachten, zeichnet sich zunehmend ein anderes Bild ab: Ein multidimensionales neurokognitives Profil, in dem bestimmte funktionelle Dimensionen unterschiedlich ausgeprägt sind.

Ein solches Modell geht davon aus, dass beide Diagnosen nicht zwei Kategorien, sondern unterschiedliche Ausprägungen auf mehreren neuropsychologischen Achsen darstellen. Wichtige Dimensionen in diesem Verständnis umfassen:

  • Impulskontrolle: Während bei ADHS typischerweise eine verminderte Impulskontrolle beobachtet wird, kann diese bei Autismus stark variieren – einige Personen zeigen eher rigide Verhaltensmuster als impulsive Reaktionen.
  • Konzentrationsfähigkeit: Menschen mit ADHS kämpfen häufig mit Ablenkbarkeit und Aufmerksamkeitsfluktuationen, während bei Autismus die Aufmerksamkeitslenkung häufig zu sehr auf Detailaspekte fixiert sein kann.
  • Zentrale Kohärenz: Der Begriff beschreibt die Fähigkeit, Sinnzusammenhänge zu erkennen. Bei Autismus ist die zentrale Kohärenz oft eingeschränkt (Fokus auf Details statt auf das große Ganze). Auch manche ADHS-Betroffene zeigen ähnliche Muster, wenn auch häufig dynamischer und weniger stabil.
  • Theory of Mind: Die Fähigkeit, die Gedanken, Gefühle und Absichten anderer zu verstehen, ist bei Autismus oft beeinträchtigt. ADHS-Betroffene können zwar grundsätzlich über eine intakte „Theory of Mind“ verfügen, haben aber gelegentlich Schwierigkeiten, diese sozial angemessen umzusetzen – bedingt durch Impulsivität oder Aufmerksamkeitsprobleme.
  • Soziale Kognition: Hier gibt es Überschneidungen: Schwierigkeiten im Erfassen sozialer Regeln und feiner sozialer Signale treten sowohl bei ADHS als auch bei Autismus auf, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

 

Warum dieses Modell wichtig ist

Ein multidimensionales Verständnis eröffnet neue Perspektiven in Diagnostik und Therapie:

  • Individuellere Diagnostik: Anstelle von „entweder-oder“ ermöglicht es, das individuelle neurokognitive Profil präziser zu erfassen.
  • Bessere Behandlung: Therapieansätze können spezifischer auf die jeweiligen Funktionsbereiche abgestimmt werden, etwa durch gezieltes Training sozialer Kognition oder Strategien zur Impulskontrolle.
  • Weniger Stigmatisierung: Wenn wir Neurodiversität als Kontinuum verschiedener funktioneller Ausprägungen begreifen, rückt die individuelle Entwicklung in den Mittelpunkt – und nicht das Defizitdenken.

Fazit

Das wachsende Wissen über die Überschneidungen zwischen ADHS und Autismus lädt uns ein, unsere diagnostischen und therapeutischen Modelle zu erweitern. Indem wir neurokognitive Funktionen als Dimensionen betrachten, schaffen wir Raum für ein differenzierteres, respektvolleres Verständnis neurodiverser Menschen.

Unsere Vision: Weg von starren Kategorien – hin zu einem dynamischen Modell menschlicher Vielfalt.